fs 1
marinus, 13:47h
Auf dem Sitz neben mir Jean. Der blinde Jean, dessen Einbildungskraft zum Fürchten ist. Und uns gegenüber, vor dem Hintergrund der vorbeirasenden Wand, das Objekt der tastenden Worte, die ich Jean ins Ohr flüstere. Jean lauscht, die Miene unbewegt, die Augen fest geschlossen, er selbst Concierge und Gott und Adam des Paradieses, das meine Worte ihm auftun. Sie ist jung, vielleicht etwas über zwanzig, sie trägt ihre dunkelbraunen Haare lang, eine Idee zu lang in die Stirn, kein Make-up und ihre grünen Augen sind geradewegs auf mich gerichtet. Sie kneift sie argwöhnisch zusammen, sie trägt keine Tasche bei sich, sie blickt kurz auf Jean, wieder zurück auf mich, dunkle Jeans, absatzlose Schuhe, sie streicht sich die Haare aus der Stirn, ich sage Jean, daß sie uns beobachtet, er lacht, sie lächelt, schüttelt, kaum wahrnehmbar, den Kopf, blickt mich weiter an, ich wende meinen Blick ab, will mich geschlagen geben, aber Jean drängt, weiter, weiter, was tut sie. Nichts, sie tut nichts, sie blickt mich an, ernst, nachdenklich, dann steht sie auf, es ist stickig hier, die nächste Station, sie steigt aus, winkt sie uns leicht zum Abschied, ich weiß es nicht. Sie ist davon.
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sturm
marinus, 11:23h
Tränen in den Augen, Wut in den Fäusten, den langen Jammer entlang, Brücke über Stadtbrache, der Regen, der Wind, ein Tosen, das Dach, das ein wenig Schutz bot, aber finster war's trotz der Durchbrüche rechts und links, keine Laternen, schwankend der Grund, im Wind, früher Nachmittag, Berliner Spätherbst und die Wut im Herzen, oder Trauer, eine Wut, die abflauen würde, das wusste sie, zu einer Trauer, die noch viel weniger auszuhalten sein würde als die Wut, die sie antrieb, geradeaus, blind, immer weiter, am Volkspark entlang, ins Bötzowviertel hinein, durch die Nässe, den Sturm, die ihr zupass kamen, die ihr Widerstand boten, einen äußeren Widerstand, der den Widerstand in ihrem Innern vertrat, den unmöglichen Widerstand gegen Jean, der an allem Schuld war, der sie verraten hatte und betrogen. Den sie geliebt hatte und den sie, daher die Wut, die Trauer und der Widerstand, der ihr fehlte, noch liebte. Ohne den Wind und das Wetter, gegen die sie ankämpfte, wäre da nur die Leere gewesen, mit der nichts anzufangen war, als in sie hineinzufallen wie in eine Verzweiflung, die kein Ende kennt. Schiene die Sonne, sie wäre nicht gelaufen, sie hätte sich auf ihr Bett gelegt, die Augen an die Decke geheftet, starr und blind und voller Selbstmitleid. So fand die Wut, die nichts wissen wollte von Trauer, ihren Halt an der Außenwelt, die tobte, als könnte sie Marion sagen, was zu tun sei. Ein Herr mittleren Alters, einen Hut auf dem Kopf, den er mit der rechten Hand hielt, dass er nicht davongeweht wurde, einen Hund ohne Leine vor sich, der dem Wetter trotzte, zwischen blanksanierten, bonbonfarbenen Häusern eines, von dem Putzbrocken flogen im Sturm - oder bildete sie sich das nur ein - und der Herr, den Blick auf sie gerichtet, was für ein Sauwetter, rief er, sie verstand es kaum, weil am Haus an der Ecke eine Plane flatterte, ja knatterte, als wollte sie gegen den Lärm anschreien, irgendwas, als wollte sie, vielleicht, auf und davon, von den Schnüren, die sie ans Gerüst knoteten, kaum gebändigt. Marion verstand ihn beinahe nicht, den Herrn mit dem Hund, der Hund, der ungerührt schien von der Natur, ein Dalmatiner und sein Herr, mit Hut, der gar keine Antwort erwartete, von ihr, auch wenn ihre Tränen gewiss nicht zu erkennen waren im Regen, oder, wenn sie zu erkennen waren, bloße Reaktion schienen auf den Wind, dem sie sich entgegenstemmte. Für eine Sekunde blickte sie dem Herrn ins Gesicht, nahm, für eine Sekunde, dieses Bild war, der Herr im Mantel, den Hut auf dem Kopf, die Hand auf dem Hut, eine komische Figur, die ihr nicht komisch vorkam, auf dem Gehsteig einer Straße, in der es knatterte und der Putz von den Häuserwänden flog, dieses Bild würde sie erinnern, vielleicht, mehr nicht, später, nach dem Sturm, nach der Wut. Das dachte sie oder dachte sie nicht, sie hätte es nicht zu sagen gewusst, hätte sie einer gefragt.
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der schluessel
marinus, 20:12h
Sie blickte mir in die Augen, winkte mir, lockte mich, als wäre sie meine Erfindung, aus dem Nichts auf diese Straße gesetzt, bereit, all meine Wünsche zu erfüllen. Ein schmutziger Hauseingang, Graffiti, die man abzuwaschen versucht hatte, mit dem Ergebnis, dass die Schrift nicht verschwunden, nur verschmiert war, damit der Sinn, den die Worte vielleicht einmal gehabt hatten. Die Frau trug absatzlose Schuhe, dazu einen Minirock aus Leder und bewegte die Hüften nicht mehr als nötig. Staub auf dem Flur, ein wackliges Holzgeländer, abgeblätterte Farbe auf den Türen, rostrote Splitter auf dem schneeweißen Boden davor. Ewig stiegen wir diese Treppen nach oben, sie voran, ohne sich umzublicken, ich immer hinterher. Zweiter Stock, dritter Stock, immer weiter, bis wir vor einer Tür ohne Schloss standen, die sie öffnete, niedrige Decke, in dem Zimmer, das wir betraten, eine Dachschräge, zwei Schritte und ich hätte mir den Kopf gestoßen. Mein Blick fiel auf ein Fenster, hindurch auf den Himmel und nichts dahinter. Kahler Fußboden, eine Matratze, hilflos auf dem Rücken ein aufgespannter Schirm, der aussah, als hätte er alle Versuche, sich zappelnd auf die Füße zu drehen, vor langer Zeit aufgegeben. Staub, sehr viel Staub, auf dem Boden, auf dem schmalen Fensterbrett, auf dem kein Glas Platz gehabt hätte. An der Wand eine eingestaubte Reproduktion eines Degas-Gemäldes, eine dieser unzähligen Tänzerinnen. Der Raum hätte dringend gelüftet werden müssen, die Frau machte keine Anstalten, so zog ich meinen Kopf ein und machte mir an dem Fenster zu schaffen. Es ließ sich nicht öffnen, ich holte mir einen blutigen Zeigefinger. Die Frau verschwand aus dem Raum, ohne zu lächeln, kam zurück, lächelnd, sieh sah aus wie die Mona Lisa, in der Hand ein Glas Wasser, sie nahm meinen Finger und tauchte ihn hinein. Gebannt beobachteten wir die Blutschlieren, vielleicht nur ein paar Sekunden, dann hörte sie auf zu lächeln, verließ den Raum, das Glas in der Hand, kehrte nicht zurück, also folgte ich ihr nach ein paar Minuten. Alle weiteren Zimmer der Wohnung waren vollständig leer, wirkten im Gegensatz zum Vorderzimmer, aus dem ich kam, aber sauber. Nirgendwo Staub, nirgendwo die Frau, irgendwo im Haus fiel eine Tür laut ins Schloss. Ich ging von einem Zimmer ins nächste, eine Küche, aus keinem der Wasserhähne kam auch nur ein Tropfen. Ich fuhr mit dem Mittelfinger über das Fensterbrett, kein Körnchen Staub. Im größten Raum ochsenblutrote Dielen, die keinerlei Geräusch von sich gaben auf meinem Weg zum Fenster, auf dem Weg zurück knarzten sie heftig. Ich betrachtete meinen Zeigefinger, keine Spur von einer Wunde, in der Ecke des Zimmers stand zusammengefaltet auf seiner Spitze ein Schirm. Verblüfft eilte ich zurück ins Vorderzimmer, der Schirm war verschwunden und mit ihm der Staub. An der Wand die Reproduktion eines Gemäldes, darauf zwei lächerliche Ladys in einer Kutsche, im Hintergrund ein herrschaftliches Schloss. Ich taumelte ein paar Schritte zurück, zum Fenster Fenster, lehnte leicht zitternd an der Wand. Wasser rauschte, das Geräusch schien aus der Küche zu kommen, ich hastete in die Richtung, stolperte über den Teppich, der sich an einer Stelle gewölbt hatte, die Tür schlug hinter mir zu, ich fiel. Der freundliche junge Mann, der aus der Küche trat, half mir auf, tippte sich an den Bowler-Hut und trat ins der Küche gegenüberliegende Zimmer. Ich hinterher, keine Spur von ihm, oder doch, auf dem üppig mit Blumensträußen geschmückten Tisch lag der Bowlerhut. Ratlos ließ ich mich auf das ausladende Fauteuil sinken, eine Staubwolke wirbelte auf, ich nieste sieben mal. „Das ist das Zeichen“, sagte die junge Frau von vorhin, die sich umgekleidet hatte und nun einen dunkelgrauen Hosenanzug trug. Sie nahm mich bei der Hand, wir gingen zur Wohnungstür, das Treppenhaus hinab, es war recht finster. Im Hauseingang Graffiti, aber es war so dunkel, mit Mühe las ich das letzte Wort des längeren Satzes, dann zog mich die Frau ungeduldig weiter, wir traten auf die Straße. Das letzte Wort lautete: Schlüssel. Mit Ausrufezeichen, die Frau war verschwunden.
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