Dienstag, 9. Dezember 2003
der schluessel
Sie blickte mir in die Augen, winkte mir, lockte mich, als wäre sie meine Erfindung, aus dem Nichts auf diese Straße gesetzt, bereit, all meine Wünsche zu erfüllen. Ein schmutziger Hauseingang, Graffiti, die man abzuwaschen versucht hatte, mit dem Ergebnis, dass die Schrift nicht verschwunden, nur verschmiert war, damit der Sinn, den die Worte vielleicht einmal gehabt hatten. Die Frau trug absatzlose Schuhe, dazu einen Minirock aus Leder und bewegte die Hüften nicht mehr als nötig. Staub auf dem Flur, ein wackliges Holzgeländer, abgeblätterte Farbe auf den Türen, rostrote Splitter auf dem schneeweißen Boden davor. Ewig stiegen wir diese Treppen nach oben, sie voran, ohne sich umzublicken, ich immer hinterher. Zweiter Stock, dritter Stock, immer weiter, bis wir vor einer Tür ohne Schloss standen, die sie öffnete, niedrige Decke, in dem Zimmer, das wir betraten, eine Dachschräge, zwei Schritte und ich hätte mir den Kopf gestoßen. Mein Blick fiel auf ein Fenster, hindurch auf den Himmel und nichts dahinter. Kahler Fußboden, eine Matratze, hilflos auf dem Rücken ein aufgespannter Schirm, der aussah, als hätte er alle Versuche, sich zappelnd auf die Füße zu drehen, vor langer Zeit aufgegeben. Staub, sehr viel Staub, auf dem Boden, auf dem schmalen Fensterbrett, auf dem kein Glas Platz gehabt hätte. An der Wand eine eingestaubte Reproduktion eines Degas-Gemäldes, eine dieser unzähligen Tänzerinnen. Der Raum hätte dringend gelüftet werden müssen, die Frau machte keine Anstalten, so zog ich meinen Kopf ein und machte mir an dem Fenster zu schaffen. Es ließ sich nicht öffnen, ich holte mir einen blutigen Zeigefinger. Die Frau verschwand aus dem Raum, ohne zu lächeln, kam zurück, lächelnd, sieh sah aus wie die Mona Lisa, in der Hand ein Glas Wasser, sie nahm meinen Finger und tauchte ihn hinein. Gebannt beobachteten wir die Blutschlieren, vielleicht nur ein paar Sekunden, dann hörte sie auf zu lächeln, verließ den Raum, das Glas in der Hand, kehrte nicht zurück, also folgte ich ihr nach ein paar Minuten. Alle weiteren Zimmer der Wohnung waren vollständig leer, wirkten im Gegensatz zum Vorderzimmer, aus dem ich kam, aber sauber. Nirgendwo Staub, nirgendwo die Frau, irgendwo im Haus fiel eine Tür laut ins Schloss. Ich ging von einem Zimmer ins nächste, eine Küche, aus keinem der Wasserhähne kam auch nur ein Tropfen. Ich fuhr mit dem Mittelfinger über das Fensterbrett, kein Körnchen Staub. Im größten Raum ochsenblutrote Dielen, die keinerlei Geräusch von sich gaben auf meinem Weg zum Fenster, auf dem Weg zurück knarzten sie heftig. Ich betrachtete meinen Zeigefinger, keine Spur von einer Wunde, in der Ecke des Zimmers stand zusammengefaltet auf seiner Spitze ein Schirm. Verblüfft eilte ich zurück ins Vorderzimmer, der Schirm war verschwunden und mit ihm der Staub. An der Wand die Reproduktion eines Gemäldes, darauf zwei lächerliche Ladys in einer Kutsche, im Hintergrund ein herrschaftliches Schloss. Ich taumelte ein paar Schritte zurück, zum Fenster Fenster, lehnte leicht zitternd an der Wand. Wasser rauschte, das Geräusch schien aus der Küche zu kommen, ich hastete in die Richtung, stolperte über den Teppich, der sich an einer Stelle gewölbt hatte, die Tür schlug hinter mir zu, ich fiel. Der freundliche junge Mann, der aus der Küche trat, half mir auf, tippte sich an den Bowler-Hut und trat ins der Küche gegenüberliegende Zimmer. Ich hinterher, keine Spur von ihm, oder doch, auf dem üppig mit Blumensträußen geschmückten Tisch lag der Bowlerhut. Ratlos ließ ich mich auf das ausladende Fauteuil sinken, eine Staubwolke wirbelte auf, ich nieste sieben mal. „Das ist das Zeichen“, sagte die junge Frau von vorhin, die sich umgekleidet hatte und nun einen dunkelgrauen Hosenanzug trug. Sie nahm mich bei der Hand, wir gingen zur Wohnungstür, das Treppenhaus hinab, es war recht finster. Im Hauseingang Graffiti, aber es war so dunkel, mit Mühe las ich das letzte Wort des längeren Satzes, dann zog mich die Frau ungeduldig weiter, wir traten auf die Straße. Das letzte Wort lautete: Schlüssel. Mit Ausrufezeichen, die Frau war verschwunden.

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