Donnerstag, 11. Dezember 2003
sturm
marinus, 11:23h
Tränen in den Augen, Wut in den Fäusten, den langen Jammer entlang, Brücke über Stadtbrache, der Regen, der Wind, ein Tosen, das Dach, das ein wenig Schutz bot, aber finster war's trotz der Durchbrüche rechts und links, keine Laternen, schwankend der Grund, im Wind, früher Nachmittag, Berliner Spätherbst und die Wut im Herzen, oder Trauer, eine Wut, die abflauen würde, das wusste sie, zu einer Trauer, die noch viel weniger auszuhalten sein würde als die Wut, die sie antrieb, geradeaus, blind, immer weiter, am Volkspark entlang, ins Bötzowviertel hinein, durch die Nässe, den Sturm, die ihr zupass kamen, die ihr Widerstand boten, einen äußeren Widerstand, der den Widerstand in ihrem Innern vertrat, den unmöglichen Widerstand gegen Jean, der an allem Schuld war, der sie verraten hatte und betrogen. Den sie geliebt hatte und den sie, daher die Wut, die Trauer und der Widerstand, der ihr fehlte, noch liebte. Ohne den Wind und das Wetter, gegen die sie ankämpfte, wäre da nur die Leere gewesen, mit der nichts anzufangen war, als in sie hineinzufallen wie in eine Verzweiflung, die kein Ende kennt. Schiene die Sonne, sie wäre nicht gelaufen, sie hätte sich auf ihr Bett gelegt, die Augen an die Decke geheftet, starr und blind und voller Selbstmitleid. So fand die Wut, die nichts wissen wollte von Trauer, ihren Halt an der Außenwelt, die tobte, als könnte sie Marion sagen, was zu tun sei. Ein Herr mittleren Alters, einen Hut auf dem Kopf, den er mit der rechten Hand hielt, dass er nicht davongeweht wurde, einen Hund ohne Leine vor sich, der dem Wetter trotzte, zwischen blanksanierten, bonbonfarbenen Häusern eines, von dem Putzbrocken flogen im Sturm - oder bildete sie sich das nur ein - und der Herr, den Blick auf sie gerichtet, was für ein Sauwetter, rief er, sie verstand es kaum, weil am Haus an der Ecke eine Plane flatterte, ja knatterte, als wollte sie gegen den Lärm anschreien, irgendwas, als wollte sie, vielleicht, auf und davon, von den Schnüren, die sie ans Gerüst knoteten, kaum gebändigt. Marion verstand ihn beinahe nicht, den Herrn mit dem Hund, der Hund, der ungerührt schien von der Natur, ein Dalmatiner und sein Herr, mit Hut, der gar keine Antwort erwartete, von ihr, auch wenn ihre Tränen gewiss nicht zu erkennen waren im Regen, oder, wenn sie zu erkennen waren, bloße Reaktion schienen auf den Wind, dem sie sich entgegenstemmte. Für eine Sekunde blickte sie dem Herrn ins Gesicht, nahm, für eine Sekunde, dieses Bild war, der Herr im Mantel, den Hut auf dem Kopf, die Hand auf dem Hut, eine komische Figur, die ihr nicht komisch vorkam, auf dem Gehsteig einer Straße, in der es knatterte und der Putz von den Häuserwänden flog, dieses Bild würde sie erinnern, vielleicht, mehr nicht, später, nach dem Sturm, nach der Wut. Das dachte sie oder dachte sie nicht, sie hätte es nicht zu sagen gewusst, hätte sie einer gefragt.
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